“Ich bin wahnsinnig eingebildet und habe keine Vorbilder”

Moritz Leuenberger empfing den SonntagsBlick zum letzten Mal als Bundesrat. Sein Rücktritt steht für den Abschied der 68er von der Politik.

Text: Peter Hossli, Marcel Odermatt, Reza Rafi Foto: Michael Sieber

leuenberger1Moritz Leuenberger überlässt nichts dem Zufall. Bis zum Schluss. «Der Fotograf kommt nicht rein?», fragt er. «Ich bin hier», antwortet der Mann mit der Kamera. Wie die Reporter sitzt er mit am Holztisch in Leuenbergers fast leerem Büro in Bern.

«Und Ihre Riesenausrüstung?» – «Ist draussen.» – «Fotografieren Sie nicht jetzt?» – «Nach dem Gespräch.» – «Wo, wie?» Leuenberger wirkt nervös. «Den Ort finde ich, während Sie das Interview geben.» Als sei er der Regisseur, weist er den Fotografen an. «Es braucht doch auch mein Einverständnis.» Zu zweit verlassen sie das Büro. Die Journalisten werden unruhig. Leuenberger wirkt gereizt. Bricht er die ganze Übung ab? Dann kehrt er zurück, lächelnd. Er hat einen Ort gefunden: in der Kantine.

Die Szene ist typisch. Leuenberger, vor 64 Jahren geboren und seit 1995 im Bundesrat, versteht es wie kein zweiter Politiker, sich selbst zu inszenieren. Er mag Macht. Und zur Macht gehört Kontrolle.

Seine Antworten sind präzise, die Worte durchdacht. Er erzählt viel und hält sich doch zurück. Nicht sagen will er, ob ein anderer Bundesrat ihm zum echten Freund geworden ist. Denn dann müsste er auch sagen, wen er nicht mochte. Mühe bekundet der Medienminister mit einigen Sendungen auf SF. Titel nennt er keine. «Sonst heisst es wieder, ich mache Medienschelte.» Geht es um ihn, ist er offen. Er könne sich vorstellen, «in ein Loch zu fallen», wenn er in einer Woche die Macht abgibt.

Mit Leuenberger tritt einer der bedeutendsten Politiker der letzten 30 Jahre ab. Sein Rücktritt steht für die Generation der 68er, die sich nach ihrem Marsch durch die Institutionen dem Rentenalter nähern. Als junger Anwalt verteidigte er den aufmüpfigen Schriftsteller Niklaus Meienberg. 1990 dann ein Höhepunkt: Als SP-Nationalrat präsidierte er die PUK nach der Affäre um Elisabeth Kopp – und löste den Fichenskandal aus. Einen Tiefpunkt in seiner Karriere gab es 1993 nach dem Mord an der Pfadiführerin Pascale Brumann: Als Zürcher Justizdirektor musste er für die vorzeitige Haftentlassung des Täters geradestehen.

Wie sieht er die Schweiz, der er jahrelang diente? «Die habe ich als Bundesrat lieben gelernt.»

Herr Leuenberger, wie geht es einem Vegetarier im Bundesrat?
Moritz Leuenberger: Immer besser. Als ich anfing, gab es einen ziemlichen Fleischterror. Der damalige Bundeskanzler hat mir jeweils lautstark gesagt: «Jetzt wird etwas Rechtes gegessen.» Heute essen drei kein Fleisch.

Wer sind die drei Vegetarier?
Sag ich nicht. Ich gehöre dazu.

Ein Problem ist es nicht mehr?
Im Gegenteil. Jene, die Fleisch auf dem Teller haben, mussten schon hören: «Da liegt ein totes Tier.»

Ist der Bundesrat in Ihrer Amtszeit puritanisch geworden?
Fleischlos essen ist doch nicht puritanisch.

An Ihnen haftet das Image des belesenen, kultivierten Bundesrats. Wie werden Sie behandelt?
Jeder hat eine Etikette. Das heisst aber nicht, dass die anderen nicht auch lesen würden. Wir reden ausserhalb der Sitzungen öfters über Literatur, empfehlen und schenken einander auch Bücher.

Ihnen sind im Gremium 18 Bundesräte begegnet. Wer ist ein echter Freund geworden?
Wenn ich das jetzt sagen würde, müsste ich auch sagen, wer der zweitwichtigste Freund ist und wer keiner war. Das verträgt sich nicht mit dem Sinn der Kollegialität.

Ist es überhaupt möglich, im Bundesrat Freunde zu finden?
Das wird sich jetzt erst weisen. Zumindest habe ich mit ein paar zurückgetretenen Ministern anderer Länder Freundschaften geschlossen, die noch immer anhalten.

Sie waren 15 Jahre im Bundesrat. In anderen Bereichen hätten Sie weit mehr Geld verdient. Warum blieben Sie der Politik treu?
Es geht niemand in den Bundesrat wegen des Geldes. Das ist zum Glück nicht aller Leute höchstes Gut. Der Bundesrat ist das einflussreichste Amt in der Schweizer Politik. Ich will Einfluss nehmen, will politisch etwas verändern.

Sie wollen Einfluss nehmen. Dann interessiert Sie Macht?
Ja, klar. Es ist absolut naiv und sträflich, wenn ein Politiker von sich erzählt, er würde keine Macht ausüben. Das hiesse ja, dass er sich seiner Macht nicht bewusst wäre.

Was bedeutet denn Macht?
Immer auch Verantwortung. Macht ist nicht Allmacht. Wir sind keine Despoten. Macht heisst Einfluss nehmen, mitgestalten. Man soll sich nicht scheuen, das Wort beim Namen zu nennen und dazu zu stehen. Jene, die das verwedeln, sind für mich unglaubwürdige Politiker, unehrlich und verantwortungslos. Man muss wissen, dass man Macht hat, dann geht man auch verantwortungsvoll mit ihr um.

Bald haben Sie keine Macht mehr. Was passiert dann?
Hoffentlich falle ich nicht in ein Loch. Ich werde weniger Einfluss haben. Klar, das wird nicht einfach sein. Noch weiss ich nicht, wie ich damit umgehe. Einmal musste dieser Tag ja kommen.

Sie übten die Macht in der Schweiz aus. Was bedeutet Ihnen dieses Land? Was bedeutet Ihnen die Schweiz?
Ich habe dieses Land erst als Bundesrat richtig lieben gelernt. Als ich das Amt antrat, waren für mich Werte wie sozialer Zusammenhalt, gemeinnützige Arbeit, direkte Demokratie eher abstrakt. Aber in vielen direkten Begegnungen und in Kreisen, in denen ich als Städter vorher nicht verkehrte – Hornusserfeste, Schwingfeste, Abstimmungsversammlungen –, habe ich den direkten Einsatz der Schweizer für diese Gemeinschaft hautnah und konkret erlebt. Das hat mir grossen Eindruck gemacht.

Und das hat Ihre Sicht auf die Schweiz verändert?
In schwierigen Momenten wie beim Attentat in Zug oder in schönen wie jüngst beim Gotthard-Durchstich habe ich eine Identifikation mit unseren Werten erlebt, die mich rührte.

Sie sind ein Linker. Linke haben einen skeptischeren Zugang zur Schweiz, zum Patriotismus.
Als Städter hatte ich zuvor nur einen theoretischen Zugang zur traditionellen Schweiz, war nie an einem Schwingfest. Die Linke ist ja vor allem in den Städten verbreitet. Sie gehört zur Urbanität wie der weltoffene, kritische Geist, der gegenüber den konservativ gepflegten Werten auf dem Land misstrauisch ist und eine gewisse Distanz dazu hat. Diese Distanz habe ich durch direkte Erfahrungen überwunden.

Sie haben als Intellektueller die Schweiz gern bekommen. Hat sich die Schweiz auch Intellektuellen wie Ihnen angenähert?
Die Schweiz hat sich in diesen 15 Jahren wahnsinnig geöffnet. Sie ist der Uno beigetreten, hat im Umweltschutz und der Nachhaltigkeit gewaltige Schritte gemacht. Als ich gewählt wurde, war ich der erste geschiedene Bundesrat. Das war damals ein Thema. Wenn heute jemand als Stadtpräsidentin kandidiert und mit einer Frau zusammenwohnt, redet nicht einmal mehr die SVP darüber.

Sie wurden als Vertreter der städtischen Schweiz gewählt. Mit Ihrem Abgang verlieren die Städter jetzt einen Vertreter im Bundesrat.
Ich werde ersetzt durch Simonetta Sommaruga. Sie ist Pianistin, verheiratet mit einem Schriftsteller. Und sie lebt in Köniz. Das ist ja auch nicht gerade auf dem Land.

PR-Mann Klaus J. Stöhlker teilt die Schweiz in die internationale A-Schweiz und die eingeigelte B-Schweiz ein. Die Politik rechnet er zur Nationalliga B.
Mit solchen Pauschalisierungen kann ich nichts anfangen. Die Politik, was heisst das überhaupt? Klar, es gibt einen Teil der Wirtschaft, der von der Globalisierung profitiert. Es gibt Manager, die nicht einmal wissen, dass bei uns der Bundespräsident jedes Jahr wechselt. Dabei geniessen sie dank unseren Infrastrukturen Wettbewerbsvorteile und erzielen Riesengewinne.

Sie haben in Ihrer Abschiedsrede vor dem Parlament gesagt, man trete auf, spiele, trete ab. Was bleibt? Auf was sind Sie stolz?
Ich hänge nicht alles, was wir erreicht haben, mir selbst an. Was wir aber in der Verkehrspolitik gemacht haben, ist einzigartig. Dafür werden wir weltweit bewundert.

Wo haben Sie versagt?
Ich wäre froh, der Staatsvertrag mit Deutschland wäre ratifiziert worden. Ich bedaure, dass der Solarrappen im Jahr 2000 abgelehnt worden ist. Wäre er durchgekommen, wären wir heute bei den erneuerbaren Energien weiter.

Sie sind Medienminister. Warum braucht eine Demokratie das?
Weil die Printmedien im freien Markt sind. Freier Markt braucht Regulation. Auf dem elektronischen Markt haben wir zudem ein nationales Fernsehen, das gebührenfinanziert ist. Das muss beaufsichtigt werden, von der Politik und dem zuständigen Medienminister.

Ihre Kritiker träumen von einer privaten Konkurrenz zur SRG.
Ich bin mit solchen Stimmen nie konfrontiert worden.

Der Wirtschaftsverband Economiesuisse will eine nationale private Kette neben der SRG.
Die Tatsache, dass es das nicht gibt, zeigt die Notwendigkeit, dass die SRG mit den vier Sprachräumen so wie jetzt geregelt werden muss. Wenn schon, gäbe es einen solchen Player im deutschen Sprachraum. In der Romandie sicher nicht – und das ist ja das politische Problem.

Die von Ihnen oftmals kritisierte Boulevardisierung findet im Fernsehen genauso statt wie im Print. «10 vor 10» ist so boulevardesk wie wir. Braucht das SF da noch einen Staatsmantel?
Worin besteht der Staatsmantel? Nur in den Gebühren. Wir brauchen ein nationales Fernsehen. Wir müssen aufpassen, einzelne Sendungen zu kritisieren. Ich habe mit einzelnen Sendungen auch meine Mühe. Manche ertrage ich überhaupt nicht. Das sage ich jetzt nicht als Medienminister, sondern als Fernsehzuschauer.

Was schauen Sie denn gerne und wann zappen Sie weg?
Nenne ich jetzt Sendungen, heisst es: «Leuenberger macht Medienschelte.»

Als Sie in den Bundesrat kamen, gab es keine kostenlosen Pendlerzeitungen. Die regionale Medienvielfalt war grösser. Wie hat sich das Wechselspiel zwischen Politik und Medien gewandelt?
Medien und Politik sind siamesische Zwillinge. Das war immer ein intensives Zusammenspiel. Dieses Zusammenspiel hat sich gewandelt. Auch ich habe als Politiker einen Wandel durchgemacht. Ich musste zuerst lernen, mit der Symbolik der Medien umzugehen.

Wo haben Sie das gelernt?
Nach dem schweren Gotthard-Unfall sagte ich im ersten Moment: Da gehe ich nicht hin, sonst störe ich die Rettungsarbeiten. Das war naiv. Man wollte, dass der Verkehrsminister dort Präsenz markiert. Das verstehe ich heute. Gefühle der Leute zum Ausdruck zu bringen, ist wichtig. Als kurz darauf das Attentat in Zug passierte, war ich innert Stundenfrist dort.

Wie hat das nervösere Medienumfeld die Politik verändert?
Es gibt eine Tendenz zur Entpolitisierung und zur Personalisierung. Diese Entwicklung haben aber nicht nur die Medien erzeugt. Sie transportieren es nur. 1968ern galt alles als politisch, auch Privates. Heute schwingt das Pendel wieder Richtung unpolitische Personalisierung und Show. Das ist eine gesellschaftliche Tendenz, keine Medienmacht.

Dieser Wandel begünstigt aber bestimmte Politikertypen.
Weltweit kann man das beobachten. Mit einem Minister in China zu verhandeln, ist völlig anders als mit einem Minister in Westeuropa.

Wie das?
Ein chinesischer Minister hat eine andere Karriere hinter sich. Zuerst war er Beamter. Er kennt sein Dossier bis ins Detail, ist ein Fachmann. Zuletzt wird er Minister und trägt politische Verantwortung.

Und der westliche Minister?
Der gewann eben einen Wahlkampf, sieht gut aus, hat eine sonore Stimme, weiss aber nicht alles. Überall nimmt er Beamte mit, die ihn unterstützen. Nach zwei Jahren ist er wieder in einem anderen Ministerium. Er kam dank der Medien ins Amt. In nichtdemokratischen Ländern ist das nicht so.

Der abtretende Zürcher Regierungsrat Markus Notter kritisierte unlängst Politiker, die in Talkshows auftreten. Einverstanden?
Macht übt man auch über mediale Präsenz aus. Um eine Meinung zu verbreiten und Leute zu überzeugen, muss man nicht nur in harte Informationssendungen, sondern auch mal in eine Jass-Sendung.

Hauptsache, man ist im TV?
Mein Kriterium war stets: Kann ich eine politische Botschaft überbringen? Ein Politiker soll nicht nur in die «Sternstunde Philosophie», sondern auch zu Monika Fasnacht oder «Glanz & Gloria».

2006 fuhr der vom BLICK kritisierte Sänger Piero Esteriore einen Mercedes in die Eingangspforte des Ringier-Pressehauses. Sie sagten damals, das würden Sie verstehen.
Das war ein Spruch. Einen Tag nach dem Zwischenfall wurde ein Porträt von mir enthüllt und ich sagte dem Maler vor Journalisten: Wenns mir nicht gefällt, fahre ich in Ihre Tür. Die meisten fanden das furchtbar lustig, aber es löste auch empörte Reaktionen aus. Viele haben Mühe mit Ironie in der Politik.

Wie hat sich denn Ihr Verhältnis zum BLICK verändert?
Es ist eine Boulevardzeitung, die teils sehr stark von der Personalisierung lebt. Ich habe mich manchmal grauenerregend geärgert und dann wieder gefreut. Es ist ein Auf und Ab. Ich bin auch ein Mensch mit Gefühlen.

Lesen Sie den BLICK regelmässig?
Ich bin erstaunt, dass Sie mich zum BLICK befragen. Sonst legen Sie immer Wert auf die Unterscheidung BLICK und SonntagsBlick.

Wir arbeiten im Integrierten Newsroom für beide Titel. Lesen Sie den BLICK regelmässig?
Nein. Ich finde nicht, dass ich das muss.

Und die Sonntagspresse?
Je länger, desto weniger.

Sie können nach Ihrem Abgang aus dem Bundesrat jede Position haben. Und Sie sind noch jung …
Ja genau, sehr jung …

Was haben Sie vor?
Es gibt eine Palette von Möglichkeiten. Zum Beispiel, eine politische Rolle über die Schweizer Grenze hinaus zu spielen. Ich könnte mich aber auch wirtschaftlich betätigen – oder kulturell.

Was würden Sie am liebsten tun?
Warten wir ab.

Sie könnten wie Peter Bodenmann oder Helmut Hubacher gut bezahlte Kolumnen schreiben.
Ich sehe meine Zukunft nicht als Kolumnist. Streichen wir das.

Sie könnten Kommentare zum politischen Geschehen abgeben.
Aber nicht in einer Kolumne.

Ehemalige US-Präsidenten werden jeweils bei Krisen um Rat gebeten. Warum hört man in der Schweiz von den meisten alt Bundesräten so wenig?
Wir haben zu wenig Krisen. Kaspar Villiger war jedenfalls sofort bereit, UBS-Verwaltungsratspräsident zu werden. Das war eine echte Krise.

Welcher alt Bundesrat ist Ihr Vorbild bezüglich der Karriere nach dem Bundesrat?
Ich bin wahnsinnig eingebildet und habe keine Vorbilder. International würde ich sagen, dass Helmut Schmidt nach dem Rücktritt eine eindrückliche Rolle gespielt hat.

Schmidt hat mehrere Bücher geschrieben. Gibt es bald ein neues Leuenberger-Buch?
Das habe ich nicht im Sinn, will es aber nicht ausschliessen.

Bundesräte erhalten ein Jahresgehalt von 440 000 Franken. Topmanager verdienen weit mehr. Was bedeutet Ihnen Geld?
Es ist nicht das Äquivalent zur geleisteten Arbeit. Man kann nicht sagen, die Arbeit eines CEO sei zehnmal mehr wert als die eines Bundesrates. Ich denke nicht so, viele Bundesangestellte denken nicht so. Beamte wie Hans Werder oder Peter Siegenthaler könnten in der Privatwirtschaft ein Zehnfaches verdienen. Ihnen und mir ist es aber ein grösserer Wert, uns für das Gemeinwesen einzusetzen.

LESEN SIE LEUENBERGERS AUSSAGEN ZUR ENERGIE-POLITIK