Die durchschnittlichste Stadt Amerikas

Wer Präsident werden will, muss in Ohio siegen. Nirgends ist es knapper als in Wood County.

Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Fotos)

Ein einziger Stuhl steht im engen Barbershop. Seit 40 Jahren schneidet Hal Huber (65) hier Haare, stutzt Bärte. Zehn Dollar verlangt er. «Über Politik rede ich nie», sagt Huber. Weil er keinen Streit will. «Warten zwei Kunden, sind es meist ein Demokrat und ein Republikaner.»

Sein Salon liegt an der Main Street in Bowling Green, der Hauptstadt von Wood County in Ohio. Es ist der durchschnittlichste Bezirk der USA – und meist der wahlentscheidende. 49 Prozent wählen Demokraten, 49 Prozent Republikaner, der Rest mal so, mal so. Bei Präsidentschaftswahlen hat der Sieger seit 1980 stets auch in Wood County gewonnen. Mehrmals besuchten deshalb Barack Obama (51) und Mitt Romney (65) den Bezirk. Vorgestern Donnerstag schaute Ex-Präsident Bill Clinton vorbei. Am Freitag schien die ganze Familie Romney in Ohio zu sein.

Sie alle kommen, weil Präsident wird, wer in Ohio gewinnt. Nötig ist dafür ein Sieg in Wood County. «Amerika im Taschenformat» nennt Coiffeur Huber den Bezirk südlich von Toledo. Eine Universität beherbergt die Stadt. Farmer züchten östlich und westlich davon Rinder. Im Norden schrauben Arbeiter Autos für Chrysler zusammen. Wagt der Coiffeur eine Prognose? «49 zu 51 oder 51 zu 49.»

Erstmals zur Wahl dürfen Hannahleigh Losch (19) und Cody Fox (18). Sie schlendern über den grosszügigen Campus der Bowling Green University. Sie sind eng befreundet – und politisch verschieden. Der angehende Politologe Fox gibt Obama die Stimme, Englisch-Studentin Losch wählt Romney.

Vor vier Jahren hatte sie noch für Obama gearbeitet. Sie ist enttäuscht. «Der Präsident hat viel versprochen und wenig gehalten», sagt sie. Fox widerspricht: «Er setzt sich für Frauen ein, die Mittelklasse, die Krankenkasse.» Losch unterbricht ihn: «Die Krankenkasse bedroht die kleinen Geschäfte. Obama schadet der Wirtschaft.»

Ist Romney besser? «Er hat als Gouverneur von Massachusetts mit allen zusammengearbeitet.» Ein schwaches Argument. «Meine Stimme für Romney ist ein Stimme gegen Obama.»

Fox hat bereits gewählt. Am Dienstag mobilisiert er für Obama letzte Wähler. Losch aber will ihre erste Wahl geniessen. «Abstimmen ist für mich eine ganz wichtige Sache, endlich bin ich richtig erwachsen.»

Wer siegt? «Obama», meint Fox. Losch: «Hätten die Republikaner einen besseren Kandidaten, wäre Obama chancenlos.»

Wood County ist sehr eben, Bowling Green eine Stadt wie Tausende andere in Amerika. Um acht geht die Sonne auf, um sechs unter. Am Stadtrand stehen Fastfood-Ketten. Im Football-Stadium joggen Teenager. Das schönste Haus ist das Gerichtsgebäude.

Fünf Kilometer ausserhalb der Stadt hievt Mike Belleville (68) Maiskolben von einem Traktor in die Scheune – Futter für Kühe. Seit 1825 besitzt seine Familie in Wood County eine Farm. Dazu gehören heute 150 Rinder, eine Fabrik, in der Schweine zu Schinken und Rinderhälften zu Steaks verarbeitet werden, sowie eine Metzgerei. «Farmer sind konservativ. Von Politikern erwarte ich, dass sie nicht lügen», so Belleville. Er wählt Romney. Nicht weil er ihn besonders mag. «Romney rettet uns nicht, aber er ist der Bessere der beiden.» Werde Obama erneut gewählt, «kann er ohne Folgen viel Schaden anrichten». Vor allem fürchtet er die Defizite. «Noch die Grosskinder unserer Kinder werden die Schulden abzahlen.»

Fast jedes Haus in Wood County gibt preis, wo der Besitzer politisch steht. Entweder steht ein knallig blaues Obama-Biden-Schild im Garten – oder ein weiss-blau-rotes von Romney-Ryan.

Die Büros der Par­teien liegen an der Main Street, sind voll ­besetzt mit übermüdeten Teenagern und Pensionären. Unentgeltlich arbeiten sie für Romney oder Obama, verteilen Kleber, Plakate, Ansteckknöpfe.

Justin Marx (38) ist Kaffeeröster. Derzeit verbringt er fast jede freie Minute im einstöckigen Holzhaus der Demokraten, mobilisiert dort Wähler. «Gehen viele zur Urne, gewinnen wir», so Marx. Er verbreitet Zuversicht. «Wir sind besser organisiert als vor vier Jahren, konnten mehr Wähler registrieren.»

Eine Karte zeigt ihm, wo er noch an Türen klopfen muss, wo noch Unentschlossene wohnen. Er nimmt einen Schluck Cola. «Sicher, der Enthusiasmus für Obama ist nicht mehr so gross wie 2008», so Marx. «Man kann nur einmal Geschichte schreiben.» Trotzdem: «Obama schafft es.»

Drei Strassen nördlich verbreiten die Republikaner ebenso viel Optimismus. Ihr Hauptquartier liegt an der grossen Kreuzung der Stadt. Zwei Dutzend Freiwillige rufen unermüdlich unentschlossene Wähler an. Mittendrin steht Matt Reger (45), ein Staatsanwalt und Vorsteher der republikanischen Partei von Wood County. «Das erste TV-Duell hat die Sache für uns gedreht», so Reger. «Viele Amerikaner sahen: Romney ist wählbar.» Der Vorteil des Financiers: «Die Wähler sind frustriert – und sie können Romney dafür nicht ­verantwortlich machen.»

Reger lehnt sich zurück. «Amerika muss ein Vorbild für die Welt bleiben», sagt der Jurist. «Mit Obama geht das nicht, dafür ist die Wirtschaft zu schwach.» Ein echtes Bekenntnis für Romney tönt anders, es ist eher eine Abfuhr an Obama. Viele denken in Ohio so. Selbst Demokraten fällt es schwer zu sagen, warum sie Obama erneut wählen werden.

Eine am Donnerstag veröffentlichte Umfrage bestätigt den Eindruck. Demnach soll Romney in Ohio knapp vorne liegen, nachdem Obama monatelang geführt hat. Kelly Wicks (46) zweifelt daran. Er ist Wirt im Café «Grounds for Thoughts», verkauft Bücher – und kandidiert für das Parlament von Ohio. Jeden Tag studiert er acht lokale Umfragen. «Obama liegt meist vorne», gibt er vor zu wissen. Und: «Ohios erholt sich schneller als der Rest der USA.»

Ein weiterer Vorteil für Obama: Vor vier Jahren hätten Demokraten an der Universität 3000 Studenten als Wähler registriert. Jetzt seien es 5300.

Es duftet nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen. Die Türe öffnet sich, Floyd Craft (76) tritt ein, bestellt einen Cappuccino. Gleich nebenan betreibt er einen Gemischtwarenladen. Die beiden grüssen sich herzlich – obwohl sie politisch anders denken. «Ich bin konservativ», sagt Craft. «Erzkonservativ.»

Seit 1976 besitzt der Vater von drei Töchtern vier Läden in Bowling Green. «Obama hat keine Ahnung, wie man ein Geschäft führt, blindlings gibt er Geld aus», sagt Craft. «Täte ich das, wäre ich bankrott.» Als ­«einen der schlechtesten Präsidenten aller Zeiten» bezeichnet er Obama. Und Romney? «Ein aufrichtiger, ehrlicher Mann, der weiss, wie man etwas anpackt.»

Er packt den Reporter am Arm, führt ihn ins Geschäft nebenan. «Das ist Amy, hören Sie nicht auf sie», stellt er seine Tochter vor. Amy Craft Ahrens (45) steht an der Kasse des Geschenkartikelladens. Sie trägt eine ärmellose Bluse, zeigt muskulöse Arme. In 3 Stunden und 27 Minuten rennt sie einen Marathon. Sie bezeichnet sich als «überzeugte Demokratin».

Wie geht das mit einem konservativen Vater? «Wir reden nie über Politik», sagt Craft Ahrens. «Und am Wahltag hebe ich seine Stimme seit 25 Jahren auf.»
Sie wählte 2008 Obama, und sie wird es wieder tun. «Damals war ich begeistert von den Aussichten», sagt Craft Ahrens. «Heute bin ich traurig, was er ­alles nicht erreicht hat.» Vier Jahre seien kaum genug, «um Bushs Sauerei zu korrigieren».

Nicht Obama habe das Land verschuldet. «Das hat uns Bush eingebrockt mit Kriegen, die wir nie hätten führen sollen.»

Sie sehnt den Wahltag herbei. «Dann ist dieses Brimborium endlich vorbei.» Sie hat genug von Obama und Romney. Genug von der endlosen Wahlwerbung am Fernehen. Zumal sie selbst keine Fernsehspots für ihren Laden mehr schalten können, klagt Craft Ahrens. «Politiker haben alles ausgebucht.» Weil sie in Wood County gewinnen müssen.