Ort der Hoffnung

Wer an Boxen denkt, denkt an Gleason’s. Die älteste Box-Schule Amerikas. Dort, wo sich einst Muhammad Ali, Jake La Motta und Mike Tyson abplackten, oder Hilary Swank und Robert de Niro auf ihre Filmrollen vorbereiteten.

Von Peter Hossli (Text) und Charly Kurz (Fotos)

lookat_00019011_preview.jpgZuerst sticht einem der herbe Duft in die Nase. Säuerliche Schweissschwaden mästen die ohnehin schon dicke Luft. Dazu gesellt sich der eisige Geruch rostigen Stahls. Schrill zirpt eine Sirene. Flugs steigt der Lärmpegel. Nach drei Minuten erneut die Sirene. Es wird ruhiger, eine Minute lang, bis es wieder zirpt. Unbarmherzig bestimmt dieser Drei-Minuten-Takt die langen Tage im Gleason’s Gym, von sechs Uhr morgens bis nachts um elf. Hier in Brooklyn, in der ältesten Box-Schule Amerikas, simulieren alle den Ernstfall – den ruppigen Rhythmus eines Box-Fights, drei Minuten volle gehen, eine Minute entspannen.

Nur Chika Nakamura nicht. Sie lässt die Pausen aus. Ihr Coach will es so. «Weiter, weiter, gib nicht auf», brüllt Carlos Ortiz wenn die Sirene zirpt. Beharrlich schlägt die 27-jährige Japanerin auf einen baumelnden blauen Sandsack. Das schweissnasse schwarze Haar klebt an Wangen und Schultern. Gezielt starren die Augen ins Leere. Sie ist müde, quält sich seit einer Stunde, am Sandsack, beim Bankdrücken, beim Sparring. Ortiz, 70 und einst Weltmeister, stoppt sie, schüttelt ihre Arme kräftig durch, reinigt das Gesicht, giesst ihr Wasser in den Mund – und schickt Nakamura weiter, zum Speed-Ball. Stoisch verdrischt sie das hängende Leder.

Ortiz mag, was er sieht. «Sie ist wunderbar und wunderschön», sagt er. «Sie liebt das Boxen und tut alles dafür, das macht mich glücklich.» Die Sirene zirpt, Nakamura will endlich pausieren. «Nein, weiter», ruft der Schleifer, «wir stoppen nicht.» Just zieht sich der buckelige Alte mit dem schütteren grauen Haaren die Handschuhe über und hämmert ein paar gezielte und technisch perfekte Schläge auf einen baumelnden Sack.

Nach zwei Stunden bricht er das Training ab. Nakamura lächelt entspannt, ist betört, als wäre sie high, umarmt den vermeintlichen Scharfmacher. «Ich tue, was er verlangt», sagt die in vier Fights ungeschlagene Profi-Kämpferin. «Er weiss, wovon er spricht.» Nun gehe sie Heim und schlafe. «Ich lebe wie eine Nonne», sagt sie. «Ich esse, ich renne, ich ruhe, bis ich Weltmeisterin bin.»

Chika und Carlos sind ein typisches Paar im Gleason’s Gym, der geschichtsträchtigen Box-Stätte. Ein einstiger Champion trainiert ein Jungtalent. Respekt und Zuneigung sind gross und gegenseitig – was die fürs Boxen erforderliche Schinderei erst zulässt.

lookat_00019000_preview.jpgDas war schon so als Muhammad Ali hier trainierte und noch Cassius Clay hiess. Vor ihm plackten sich Jake La Motta, mit ihm Joe Frazier, später Larry Holmes und Mike Tyson. Die famosen Namen, das stimmige Ambiente sowie die schrulligen Kerle, die hier ganztags rumhängen und plaudern, verleihen der Schule ein einzigartiges Ansehen. «Wer an Boxen denkt, denkt an Gleason’s, sogar in Japan», sagt Nakamura, sie packt ihre Tasche und schlenzt davon.

127 Weltmeister hat das 1937 in der Bronx gegründete Gym hervorgebracht. Später wurde es nach Manhattan verlegt, in die Nähe des Madison Square Garden, lange Zeit der wichtigste Ort des Boxsports. Die hohen Mieten drängten es zu Beginn der achtziger Jahre nach Dumbo, einem einstigen Industriegebiet am East River, zwischen Brooklyn Bridge und Manhattan Bridge.

lookat_00019008_preview.jpgNicht Chromstahl ziert die Wände, sondern Farbe, die abblättert. Preisen andere Fitness-Clubs ihre Saft-Bar oder Nasszellen an, ist Gleason’s spartanisch wie eh und je. Mit Klebeband ist eine zerschlissene Bank geflickt. Material lagert in alten und verbeulten Metallschränken. Wer sitzen will, schnappt sich einen der wenigen klapprigen Bürostühle.

An der Wand, in der eine kleine Imbissbude versenkt ist, hängen vergilbte Fotos von alten Boxern – und von Filmstars, die hier trimmten oder filmten. Fünfeinhalb Monate liess sich Hilary Swank für «Million Dollar Baby» schleifen. Sie gewann einen Schauspiel-Oscar. Ebenso Robert De Niro, der im Gleason’s für «Raging Bull» trainierte und drehte. Der Schwede Dolph Lundgren wurde hier für die Rolle des Russen in «Rocky IV» entdeckt.

Heute zählt das Gym 1200 Mitglieder aus 67 Ländern. 78 Trainer treiben sie an. Fast die Hälfte der Boxer sind Frauen, der älteste ist achtzig, der jüngste sechs Jahre alt. Sie fitten zum Spottpreis, 80 Dollar im Monat. Anfänger zahlen ihrem Coach rund 30 Dollar die Stunde. Die Profis trainieren gratis und beteiligen den Coach an der Börse.

lookat_00019015_preview.jpgOhne zu zahlen kommt keiner rein. Darüber wacht Bruce Silverglade, seit 26 Jahren der Besitzer des Gyms. Es ist kurz nach sechs. Eben hat der 59-Jährige mit dem flüchtenden Haaransatz seine Halle geöffnet. Er trägt kurze Hosen und ein weinrotes Polo-Hemd. Beim Eingang spielt er eine Partie Schach. Er verliert, wie meist. Wichtig ist ihm das nicht. Wichtig ist die Liste, die er in der Hand hält. Sie führt die Namen aller Mitglieder. Wer rein will, sagt wie er heisst, Silverglade macht einen Strich, es geht los. Mitgliederausweise oder elektronische Schleusen will er keine.

Leicht gebückt und doch stolz schlendert Silverglade durch sein Gym. Er redet wenig und sagt doch viel. «Hier lernt man drei Dinge», erklärt er. «Wie man im Ring steht, wie man die Hände hält und wie man sie in regelmässigen Sequenzen nach vorne wirft.» Boxen sei «ein gefährlicher Kampfsport mit einem einfachen Ziel», sagt er. «Triff den anderen bevor er dich trifft.» Hinter einer Glaswand verschwindet er in seinem Büro und fügt noch an: «Wir trimmen alle darauf, einen 12-Runden Kampf fit durchzustehen.»

lookat_00019009_preview.jpgDas macht in der von schwarzen Betonsäulen unterteilten Halle jeder Coach anders. Ein Russe lässt seinen Fighter immerfort auf eine hohe Bank springen. Ein Trainer aus Puerto Rico hat einen Handschuh an einem Besenstil befestigt, so dass er rascher zustossen kann. Beim Schattenboxen wirft einer die Fäuste nach vorne, duckt sich, tänzelt, hebt und senkt die Schultern. Keuchend eilt ein 12-jähriger Knabe die Rohbeton-Treppe hoch, die in den ersten Stock des Lagerhauses führt, das Gleason’s beherbergt. Sein Coach hat ihn über die Brooklyn Bridge gehetzt, ein rund 3,5 Kilometer langer Lauf in gleissender Hitze. Einer schnürt dem Schützling die Handschuhe los, drückt ihm zwei Hanteln in die Hände und lässt ihn Dreschen, damit dessen Hiebe noch satter werden.

Wie eine überdrehte und zugleich graziöse Katze duckt sich Ruth O’Sullivan. Sie tänzelt über den blauen Teppich des Rings. Der gebückte Oberkörper ist ruhelos. Auf die linke Hake folgt eine rechte, eine Kombination, ein Strich über die Nase, der sie in die Lauerstellung zurück versetzt. Geschickt weicht sie imaginären Schlägen aus.

Es ist Montag früh um sieben. Seit einer halben Stunde boxt O’Sullivan mit ihrem Schatten. Vier Mal die Woche, stets vor der Arbeit, trainiert die 30-jährige Sozialarbeiterin. Sie wiegt weniger als 50 Kilogramm, weibliche Kurven fehlen, die dünnen Arme und Beine wirken zerbrechlich. Es täuscht. Ihre Schläge sind satt, seit drei Jahren hat die Rothaarige mit dem fahlen ovalen Gesicht jeden Fight gewonnen. Öffnet sie den Mund, spricht eine selbstbewusste starke Frau. Lässig hängt sie in den Seilen. Selbstbewusst sei sie, weil sie boxe. «Kriegst du zum ersten Mal eins ins Gesicht, erschrickst du, dann gewöhnst du dich, später verlierst du die Angst.» Sie boxe, «weil du im Ring nur im Moment lebst. Wo ist das sonst möglich?»

Rastlos hebt und senkt sie die Schultern. Nervös spannt sie die Fäuste wenn sie redet. Nie hält sie inne. Genau wie im Ring. Dort hüpft und springt sie dauernd. «Ich gewinne, weil mich nie jemand erwischt.» Sie sei nicht die härteste Schlägerin, aber die treffsicherste. Am liebsten boxe sie gegen stürmische Hau-drauf-Fighterinnen. «Die ermüden rasch, ich bleibe lange munter.»

Sie hält den Golden-Gloves-Titel, die höchste Auszeichnung unter amerikanischen Amateuren. Noch zwei Jahre möchte sie nun als Profi boxen – und dann Kinder haben. «Bis dahin ist Gleason’s meine Familie.» Ein Stück Daheim in mitten der anonymen Grossstadt. «Passiert mir mal etwas, fände ich hier Hilfe.»

Es ist eine verschworene Gemeinschaft, ein Ort der Muse, hier hängen Freunde mit Freunden rum, Menschen, die sich seit Jahren oder Jahrzehnten kennen. Es dreht sich alles ums Boxen. Was abgegriffen tönt, stimmt: jeder gilt hier etwas. Alle zahlen gleich viel. Der Ring egalisiert. Palästinenser boxen neben Israelis. Mafia-Bosse neben Polizisten. Strassenkinder fordern Millionärs-Töchter. Schwarzen neben Latinos und Weissen. Hilary Swank oder Mike Tyson warten so lange auf einen freien Ring wie die geistig Behinderten, die hier trainieren. Bindet ein Coach einem Kind die kleinen Fäuste, macht er das so fürsorglich wie bei einem Profi.

«Wer rein kommt, atmet eine Brise Schweiss ein und lässt alles draussen», sagt Besitzer Silverglade. Er sitzt auf einem Tretrad, pedalt und führt die Buchhaltung. «Viele meiner Kids kommen aus dem Ghetto, wo sie jeden Tag klauen», sagt er, «andere arbeiten an der Wall Street, wo sie noch mehr klauen. Klaut bei mir einer, fliegt er raus.» Modells und Schauspielerinnen kämen, «weil sie keiner anmacht». Unruhestifter und Macker verbannt er. «Wer hier trainiert, befolgt meine Regeln», sagt Silverglade, der sich als «Zar von Gleason’s» bezeichnet.

lookat_00019003_preview.jpgDer Zar öffnet auch am Samstag das Tor, hauptsächlich für Anwälte und Banker. Die nennen sich Weisskragen-Boxer, sind keine Profis und zu alt für eine Amateur-Lizenz. Etwa Philip Maier, 48, ein Richter und Rechtsprofessor, der seit zehn Jahren im Gleason’s trainiert. Er trägt ein ärmelloses ausgefranstes Leibchen, zwängt sich durch die Seile und versucht die Polster seines Coachs mit gezielten Haken zu treffen. «Du hast mehr drauf», drängt ihn David Lawrence, sein Trainer und der wohl verrückteste Kerl im Gym. In den achtziger Jahren war er ein Millionär an der Wall Street und boxte mit einem gefälschten Ausweis gegen Amateure. Später wechselte er zu den Profis und kriegte ein paar Schläge zu viel an den Kopf.

Heute darf er nur noch trainieren. Wegen Steuerbetrugs war er im Gefängnis. Er ging Pleite. «Boxen ist der einzige echte Sport», sagt Lawrence, 59. «Da kann ich sein, was ich bin: Ein wildes Tier.» Er möge es, andere zu verletzen. «Beim Boxen kann ich das in einem geordneten Rahmen tun.» Fürchtet sich Maier, der Richter mit dem krausen schwarzen Haar, vor dem groben Coach? «Boxen ist weniger gefährlich als ein Tête-à-tête mit einer Frau», sagt er. Maier boxt seit seiner Scheidung. «Hier sind alle aus einem persönlichen Grund hier.»

lookat_00019006_preview.jpgAuch John Duddy. «Ich will herausfinden, wie gut ich wirklich bin», sagt der 27-jährige Ire mit dem kantigen Gesicht eines Testpiloten. Seit drei Jahren trainiert er in Brooklyn, «weil ich Weltmeister werden will». Wie eine Maschine hämmert er rhythmisch auf den Speed-Ball. Im selben Takt hebt und senkt er die Fersen. Trotz Schwüle und Hitze trägt er einen dicken schwarzen Trainingsanzug aus Kunststoff, um ein paar Pfunde wegzuschwitzen.

Duddy ist der Star, die grosse Hoffnung im Gleason’s, der «irische Oscar de la Hoya», wie sie ihn nennen. Siebzehn Profi-Kämpfe hat er bestritten, alle gewonnen, fünfzehn davon per K.O. Selten nur schaffen es seine Gegner in die zweite Runde. Das gefällt den Fans. Tritt Duddy an, sind die Ränge voll. «Ich verkaufe viele Tickets», sagt er, der Akzent tief und irisch, «deshalb kriege ich hohe Startgelder.» Wie hoch die Börse ist, sagt er partout nicht. 135’000 Dollar pro Kampf, schätzen amerikanische Box-Blätter.

lookat_00019005_preview.jpgEr stünde erst am Anfang, sagt sein Coach, Harry Keitt, ein grosser brummiger Kerl, der sogar dann die Ruhe selbst ist, wenn er Duddy zu Recht weist, ihn anfaucht. Sein glattrasierter Schädel glänzt im Neonlicht. «Duddy ist am lernen», sagt Keitt. Zuerst hätte er ihm den europäischen Stil abgewöhnen müssen, die aufrechte Haltung, die mangelnde Deckung, die niedrige Schlagfrequenz. Heute schlägt Duddy oft und kräftig. Das Decken hat ihm Keitt beigebracht. Nicht nur das. Der Coach, der jedes Sandwich überprüft, lehrte ihn richtig zu essen, viel zu schlafen, drei Wochen vor dem Kampf auf Sex zu verzichten, «damit er im Ring richtig explodiert».

Duddy weiss es zu schätzen. «Ich habe Harry und Gleason’s alles zu verdanken», sagt er. In Irland wollte er aufhören, hier in New York hätte er sich neu ins Boxen verliebt. Jetzt habe er es geschafft, sagt der bullige, 80 Kilogramm schwere Kämpfer. «Ich bin in Amerika, ich bin in New York, ich bin im Gleason’s Gym. Es tönt hier wie nur ein echter Box-Club tönt.»

Hinter ihm klirren die Ketten. Sandsäcke stöhnen bei jedem Punch. Gummisohlen quietschen auf dem abgewetzten Betonboden. Springseile schwingen. Ventilatoren röhren. Dazu Gemurmel in Englisch, Spanisch, Russisch. Ein Heer dumpfer Schläge mischt sich zu einem zischenden Geräuschbrei. Alle drei Minuten wird es ein bisschen leiser – bis die Sirene wieder zirpt.