“Sollte ich Angst haben?”

Bundesrätin Doris Leuthard über verlorene Abstimmungen - und warum sie häufig Heli fliegt. Sie habe kein schwieriges Verhältnis zur Auto-Lobby, sagt die Verkehrsministerin. Und erklärt, warum Fabi ein guter Name für eine Bahnvorlage ist.

Interview: Peter Hossli und Ruedi Studer Fotos: Remo Nägeli

leuthardFrau Bundesrätin, wo ist die Schweiz am unerträglichsten?
Doris Leuthard: Die Schweiz ist ein schönes Land und nirgendwo unerträglich!

Doch – im Pendler-Strom!
Finden Sie das wirklich?

Ihre Frage zeigt: Sie kennen die Welt der Pendler nicht.
Zwar pendle ich nicht jeden Tag, aber gerade letzte Woche fuhr ich zu Stosszeiten mit der Bahn.

Und Ihr Eindruck?
Unser Bahnsystem ist sehr gut und wird darum stark genutzt. Wegen der wachsenden Mobilität müssen wir mehr investieren. Das wird mit der Bahnvorlage Fabi ermöglicht.

Die Züge sind verstopft. Niemand pendelt gern. Warum wollen Sie es trotzdem fördern?
Wir fördern nicht das Pendeln, wir schaffen mehr Platz, damit die Leute von A nach B kommen und wir Güter bewegen können. Pendeln ist wegen familiären Situationen oder der Arbeit eine Realität.

Es wird mehr gependelt, weil Sie die Bahn weiter ausbauen!
Viel mehr Leute wohnen heute hier und arbeiten dort. Vor 20 Jahren zog man beim Jobwechsel noch um. Das ist heute nicht mehr so.

Jobs gibt es in der Stadt. Warum fördern Sie nicht den städtischen Wohnungsbau?
Die Politik schreibt den Menschen nicht vor, wo sie wohnen sollen. Den Ausschlag geben häufig familiäre Gründe und die Anforderungen der Wirtschaft. Wir studieren und arbeiten deshalb womöglich anderswo. Siedlungs- und Verkehrspolitik muss aber besser aufeinander abgestimmt sein. Es führt jedoch kein Weg daran vorbei, die Kapazität auf Schiene und Strasse zu erhöhen.

Obwohl Pendeln krank macht.
Ist das Ihr Fazit?

Nicht unseres, wissenschaftliche Studien zeigen: Pendeln fördert Burnout und Scheidungen, hält Eltern von ihren Kindern fern.
Niemand ist gezwungen zu pendeln, aber die freie Wahl ist je nach beruflicher und privater Situation eingeschränkt. 40 Prozent des Verkehrs ist Freizeitverkehr. Genervt wird man manchmal auch im Auto, nicht nur im Zug. Gedränge stresst. Im Stau zu stehen ist ärgerlich, ebenfalls in überfüllten Zügen zu sitzen. Deshalb müssen wir in Bahnen und Strassen investieren.

Wenn Sie investieren, erhöhen Sie vor allem die Nachfrage.
Das war vielleicht vor 20 Jahren so. Heute geht es darum, auf bereits vorhandenen Strecken mehr Platz zu schaffen. Wir kennen die Engpässe. Wir wissen, wo es Bedarf gibt, wo dieser sein wird. Der weitaus grösste Teil – 60 Prozent des Geldes – geht zudem in den Unterhalt von Gleisen, Tunnel und Brücken, nur ein Viertel in den Ausbau.

leuthard2Die S-Bahn ist mitschuldig an der Zersiedelung der Schweiz.
Die Strasse braucht mehr Fläche als die Bahn. Beim nun vorgesehenen Ausbau geht es um bestehende Linien, um die Erhöhung des Taktes und der Kapazität, etwa durch mehr Doppelstockzüge. Das braucht nicht mehr Land.

Mal ehrlich, zahlen Sie gerne mehr, wenn die Qualität einer Leistung abnimmt?
Wo wird die Qualität schlechter?

Sie sagten letzte Woche, die Bahnpreise würden steigen. Dabei sind die Züge doch überfüllt.
Deshalb investieren wir ja. Um mehr Platz und bessere Verbindungen zu schaffen, braucht es ein Ja zur Bahnvorlage Fabi.

… und die Züge werden immer unpünktlicher.
Unsere Züge sind immer noch sehr pünktlich.

Dennoch: Sie erhöhen die Preise.
Der Bund legt die Preise nicht fest, das ist Sache der Bahnunternehmen. Der geplante Ausbau bringt landesweit bessere Verbindungen. Das muss aber bezahlt sein. Alle tragen zur Finanzierung bei. Dass die Preise steigen werden, war längst angekündigt.

Wie froh sind Sie, dass die Masseneinwanderungs-Initiative mit Fabi zur Abstimmung kommt?
Warum sollte ich froh sein?

Die SVP greift Fabi nicht an.
Sollte ich Angst haben vor der SVP?

Sie würden bangen, griffe die SVP mit ihren Millionen Fabi an.
Die Bahn ist ein Sympathieträger. Alle Schweizer fahren Bahn, alle profitieren, und alle erhalten mehr.

leuthard3Wenn das Volk die Masseneinwanderungs-Initiative annimmt, braucht es kein Fabi.
Es ist ein Trugschluss zu meinen, allein die Zuwanderung sei schuld an verstopften Zügen und Strassen. Die Mobilitätszunahme ist hausgemacht. Wir hatten in den letzten zehn Jahren eine Bevölkerungszunahme von 10 Prozent, die Mobilität wuchs aber doppelt so rasch. Das liegt am geänderten Verhalten: Wir fahren alle häufiger und viel weiter als früher, egal auf welchem Streckennetz.

Fabi bringt für die Konsumenten eine Mehrbelastung von einer Milliarde Franken.
An der Finanzierung beteiligen sich alle, Bund, Kantone, Bahnunternehmen und die Bahnkunden, nicht nur die Konsumenten. Dies ist ausgewogen. Bezüglich Mehrwertsteuer geht es um ein Promille, das jetzt noch in die IV fliesst und von 2018 bis 2030 befristet für den Bahnfonds vorgesehen ist. Es ist keine Steuererhöhung.

Fabi kostet uns dreimal mehr als die gescheiterte Vignette.
Der Vergleich hinkt. Bei Fabi geht es darum, Substanzerhalt, Betrieb und Ausbau der Bahninfrastruktur sicherzustellen. Bei der Vignette ging es um kantonale Strecken, die das Parlament neu ins Nationalstrassennetz aufnehmen wollte. Da wurden fünf Franken mehr im Monat schon als
«Abzockerei» bezeichnet.

Jahrelang haben Sie jede Abstimmung gewonnen. Dann verloren Sie die Zweitwohnungs- und die Vignettenabstimmung. Was ist nur los?
Das ist keine schlechte Bilanz. Ich kenne keinen Bundesrat, der bisher mit allen Vorhaben durchgekommen ist. Vorlagen können ja schon im Parlament scheitern.

Wie persönlich treffen Sie Niederlagen?
Das darf man nie persönlich nehmen. Wir leben in einer Demokratie. Mühe habe ich mit unsachlichen Argumenten und Anschuldigungen.

hossli_leuthardFür Fabi treten Sie weniger häufiger auf als für die Vignette. Warum diese Zurückhaltung?
Mein Engagement entspricht dem üblichen Rahmen. Aufgrund des frühen Abstimmungstermins steht viel weniger Zeit zur Verfügung.
Es ist aber nötig, die Leute zu informieren.

Sie wollen die Gegner nicht mobilisieren. Die Fabi-Vorlage verkauft sich von selbst. Es braucht Sie gar nicht.
Nein, die Vorlage wird kontrovers diskutiert. Die Leute zu informieren, ist Aufgabe des Bundesrates.

Weshalb hat eine solch wichtige Vorlage ein nichtssagendes Kürzel wie Fabi? Früher gab es schöne Namen wie «Bahn 2000».
Ich finde Fabi sehr eingängig. Kennen Sie denn die Übersetzung?

Bundesbeschluss für die Finanzierung und den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur.
Sehen Sie!

Das ist unser Job. Die meisten können es nicht ausdeutschen.
Die Namen eines Bundesgesetzes sind oft etwas kompliziert, dann kürzt man sie ab. Die Leute wissen: Fabi ist gleich Bahn. Das ist wichtig!

Das ist doch Bauernfängerei!
Die Leute wollen wissen: Was bedeutet es für mich? Und was kostet es? Auf diese Fragen gibt der Bundesrat eine Antwort. Wer die Details wissen will, wird von uns ebenfalls umfassend informiert.

Ihr Verhältnis zu den Strassenverbänden ist ziemlich zerrüttet.
Nein.

leuthard5Astag-Präsident Adrian Amstutz bat sie in der Wintersession um ein Gespräch im Hinblick auf den neuen Strassenfonds NAF. Er ist abgeblitzt. Jetzt tritt ein Teil der Strassenlobby gegen Fabi an.
Die grossen Verbände wie der TCS befürworten Fabi. Im Übrigen habe ich die Strassenverbände Ende Mai vollumfänglich über den NAF informiert. Seither hat sich nichts daran geändert.

Eine Aussprache mit den Siegern der Vignettenabstimmung braucht es nicht?
Ein Gespräch braucht es, wenn es etwas zu bereden gibt. Ich kenne die Haltung der Strassenverbände zum NAF. Jetzt kommt die Vernehmlassung. Danach sitzen wir wieder zusammen. Aber jetzt gibt es nichts Neues.

Kein Entgegenkommen nach dem Vignetten-Aus? Etwa die Autoimportsteuer vollständig in den NAF fliessen zu lassen?
Gemäss Beschluss des Bundesrats vom Juni kommen zwei Varianten in die Vernehmlassung: Danach fliesst bekanntlich die Importsteuer zu zwei Dritteln oder sogar zu 100 Prozent in den NAF. Das ist bereits ein Entgegengekommen.

Für welche Variante sind Sie persönlich?
Ich bin Teil des Bundesrates!

Wie bewegen Sie sich am liebsten fort?
Am liebsten gehe ich zu Fuss. Wenn ich am Morgen aber in Genf sein muss, am Nachmittag in Bern und am Abend in Sargans, bin ich manchmal sogar auf den Heli angewiesen. In der Regel nehme ich aber das Auto oder die Bahn. Zwischen den Städten ist der Zug meist schneller.

Warum fliegen Bundesräte immer häufiger mit dem Helikopter durch die Schweiz?
Der Einsatz erfolgt zurückhaltend. Es gibt aber kantonale Konferenzen, die auch in etwas entlegeneren Orten stattfinden. Während eines Abstimmungskampfes bin ich oft unterwegs. Da entsteht ein zeitliches Problem, dann nehme ich den Heli.

Weil Pendeln zu langsam ist?
Nein, weil ich oft innerhalb einer Stunde irgendwo sein muss. Die Agenda ist sehr dicht.

Warum setzen Sie nicht mehr auf moderne Technik?
Ich erledige vieles per Mail oder Telefon, aber an Anlässen und Sitzungen ist es wichtig, persönlich anwesend zu sein, da kann man nicht einfach ein Video von mir zeigen.