“Italien zeigt kein Herz für meine Familie”

Die italienische Migrantenkrise verschärft sich. Behörden lassen Familien fallen. Und Italiener greifen Flüchtlingszentren an.

Von Peter Hossli (Text) und Luca Sola (Fotos)

refugees1Dünne Decken liegen auf zwei Pritschen. Schwach flimmert das Neonlicht. Tapeten blättern ab. Kalt harrt der Steinboden.

Rasool Rezai (43) holt ein Foto aus dem Schrank. Es zeigt seine Familie, als sie noch eine Familie war.

Vater, Mutter, Tochter, Sohn.

«All das ist zerbrochen», sagt er. Mehr als diesen unwirtlichen Raum in der italienischen Stadt Treni hat der afghanische Flüchtling nicht. «Wegen Fatima erdulde ich all das.» Wegen seiner Tochter. «Sonst würde ich mich wohl umbringen.»

Hier in Italien endet seine Reise. Sie beginnt vor neun Jahren mit verbotener Liebe. Rasool lacht Madine an. Ihre dunklen Augen haben es ihm angetan. Er aber ist Schiite, sie ist Sunnitin. Sein Stamm verachtet ihren Stamm seit Generationen, wie bei «Romeo und Julia».

Trotzdem heiraten sie, haben zwei Kinder. Er erntet Gemüse, sie bestellt den Haushalt. Bis sie fliehen. Zu gross ist der Hass im Dorf.

fatima_rasoolSchlepper bringen sie in den Iran. 18 Monate lebt die Familie im Untergrund, bis die Polizei sie entdeckt. Schlepper schmuggeln sie weiter an die türkisch-iranische Grenze. Wo ihr Leben entgleist.

Vor dem Grenzübergang trennt ein Wächter die Familie. Vater und Tochter reisen in die Türkei ein. Mutter und Sohn bleiben im Iran.

Fast 2000 Kilometer legen Rasool und Fatima in Bussen zurück, bis an die Ägäis. Bei Izmir besteigen sie ein Boot mit total 54 Passagieren, alle mit gleichem Ziel: Italien.

Kniehoch ist ihre Koje. Sieben Nächte liegen sie bewegungslos da, sehen nie Licht, essen nichts, trinken wenig, besudeln sich. Todesangst packen Vater und Mädchen. Mitten in der Nacht legen sie südlich von Bari (I) an. «Wie Geister sahen wir aus», sagt Rasool, «ausgehungert, bleich, schmutzig.»

Fatima, damals 7, erinnert sich an nichts. Sie hat alles verdrängt.

Nach der Ankunft nimmt die Polizei ihre Fingerabdrücke, sie bitten um Asyl. Seither lebt Rasool, um zu überleben. Er denkt nur an etwas: Wie kann er seine Familie vereinen? «Alles andere ist unwichtig», sagt er. «Die Regierung hilft uns überhaupt nicht.» Dabei, sagt er, habe ich nur da Hilfe nötig. «Italien zeige kein Herz für Familien.»

fatima_dorsaKeine Rückführung
Genau deshalb sei es nicht einfach zumutbar, Familien von der Schweiz nach Italien zurückzuschicken, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. «Dabei hat sich in den letzten Monaten das italienische System etwas verbessert», sagt der Direktor der italienischen Flüchtlingshilfe, Christopher Hein. Es gebe für Familien neue kleine Unterkünfte.

Versiebenfacht habe sich die Anzahl Betten für Flüchtlinge. Angesichts der Menschen, die nach Italien gelangen, ein Muss. Dieses Jahr flüchteten 156 000 übers Mittelmeer. Im bisherigen Rekordjahr 2011 waren es total 60 000.

Die Schweiz sei schuld am Urteil, sagt Hein. «Wie kann sie eine Familie mit sechs kleinen Kindern gegen deren Willen nach Italien schicken wollen?» Zumal eines in der Romandie zur Welt kam. «Die Schweiz hätte die Familie aus gesundheitlichen, familiären und humanitären Gründen aufnehmen dürfen.»

peter_fatimaKärglich ist der Raum, in dem Rasool haust. Er sitzt auf dem Bett, neben ihm Fatima. Frech feixt sie, macht sich lustig über den Reporter, wie es neunjährige Mädchen tun. Akzentfrei spricht sie italienisch. Simona heisse ihre Lieblingslehrerin.

Gut geht es ihr nicht. Jede Nacht nässt Fatima das Bett. «Sie fragt immer, wann ihre Mutter wieder da sei.» Oft wimmere sie im Bett neben ihm. «Eine Antwort habe ich nicht.» Mit den Händen bedeckt er sein Gesicht. «Was für ein Vater bin ich, der seiner Tochter nicht sagen kann, wann sie ihre Mutter sieht?» Er, der so viel erlebt hat, heult.

Nach der Ankunft in Italien lebte er mit Fatima in einem süditalienischen Flüchtlingslager. Sie teilten Bad und Küche mit 2800 anderen. Der Spielplatz war verlottert. Oft erlebte die kleine Fatima, wie sich grosse Männer prügelten. Rasool schaute zu.

Mit dem Bus gelangen sie nach Terni, einer Industriestadt in Um­brien, 110 Kilometer nördlich von Rom. Hier teilen sie drei Zimmer mit einer iranischen und einer nigerianischen Familie. Fatima spielt oft mit Dorsa (9), der Tochter eines geflohenen Iraners. Die Erwachsenen aber verstehen sich nicht.

Rasool arbeitet für Bauern, «leider nur Teilzeit». Zwischen 400 und 500 Euro verdient er monatlich. Nicht genug, um Geld nach Kabul zu schicken, wo seine Frau und sein Sohn jetzt leben. Der Iran hat sie ausgewiesen. Papiere haben sie nicht. Nach Hause in ihr Dorf wollen sie nicht. Aus Angst vor Rache.

emmanuelLeben im Bürohaus
Dreissig Minuten dauert die Autofahrt von Roms Hauptbahnhof in den oströmischen Vorort Tor Sa­pienza. Auf den Strassen liegt Abfall, verhudelte Kinder rennen Bällen hinterher. Mitten im Industriegebiet steht ein verlassenes Büro­gebäude. An der Fassade hängen Satellitenschüsseln. Niemand kontrolliert, wer rein- und rausgeht. 400 Menschen leben hier, unter ihnen viele Kinder. Die meisten kommen aus Somalia, Eritrea und Jemen.

Emmanuel (42) ist einer der wenigen Äthiopier. Seit fünf Jahren ist er hier daheim. «Alle Zimmer sind schmutzig, wir haben keine Küche, niemand hat Privatsphäre, Kinder haben keine Spielsachen.» Sein Kopf ist rasiert. Vor zehn Jahren flüchtete der kräftige Mann, fühlte sich als Christ verfolgt. Die Überfahrt im kleinen Kutter von Libyen nach Sizilien kostete 1000 Euro. Seit drei Jahren ist er anerkannter Flüchtling, findet aber keine Arbeit als Maurer. «Die Italiener haben nichts zu tun, wie sollen sie mich da beschäftigen?»

sandroItaliener wehren sich
Dieses Dilemma wühlt Italien auf. Landesweit häuft sich die Gewalt gegen Flüchtlinge. Martialisch stehen Polizisten vor einem Wohnblock in Tor Sapienza. Sie tragen Helme, halten Knüppel hoch, ihre Pistolen sind geladen. In der Nacht zuvor kam es zu Tumulten. Italiener griffen das Haus an, in dem Migranten aus Mali und Bangladesch leben, warfen Steine. Nun bewacht die Polizei das Quartier, die Strassen sind abgeriegelt. Wild gestikuliert Sandro (49). Seit 27 Jahren wohnt er hier. «Warum leben die Bangladeschi gratis?», will der hagere Strassenputzer wissen. «Bangladesch ist doch nicht im Krieg.»

«Basta», sagt Sandro. Er hat genug. «Die Flüchtlinge erhalten alles, wir nichts.» Er bezahle die Pasta, die er isst, die Wohnung, in der er schläft. «Jetzt nehmen sie uns noch die Jobs weg, ihre Kinder klauen», klagt Sandro an. «Wie sollen wir überleben, wenn sie uns das wenige abluchsen, das wir haben?» Sandro hat eine Lösung: «Italien muss die Grenzen schliessen.»

Auf einem Geländer sitzen Halbstarke, alle um die 25, mit dunklen Sonnenbrillen. Keiner arbeitet. 46 Prozent der jungen Italiener sind arbeitslos, in Südita­lien sind es sogar über 60 Prozent.

tor_sapienza Valerio (28) steht cool da in den engen Jeans. Einen Job hatte er noch nie. «Ohne Flüchtlinge hätte ich Arbeit», sagt Valerio.

Die Sonne scheint, Autos stehen im Stau. Nichts geht auf den löchrigen Strassen. Es ist Freitag, Generalstreik in Rom. Die Gewerkschafter fordern höhere Löhne.

Ein ganz normaler Tag in Italien. Tief steckt das Land in der Misere. Noch schmecken Baci und Balsa­mico, Pasta und Pesto. Städte aber zerfallen, genauso historische Stätten wie Pompei. Erholen sich Spanien und Portugal und selbst Griechenland von der Krise, schrumpft Italien weiter. «Was willst du denn? Seit 30 Jahren haben wir miese Regierungen», sagt ein Demonstrant. «Überleben kann in Italien nur noch, wer den Staat betrügt.»

Gleichzeitig erlebt das Land seine schwierigste Flüchtlingskrise.

Es gibt Tage, an denen die italienische Marine 3000 Menschen rettet. Vielen Asylbewerbern sei «voll bewusst», wie das Land darbt, sagt Caterina Sarfatti, in der Stadt Mailand zuständig für Flüchtlinge. «Sie wollen keine Bürde sein.» Deshalb geschieht, was Europa kritisiert – Migranten ziehen weiter, ohne sich in Italien registrieren zu lassen. Dabei müssen Flüchtlinge im ersten Land um Asyl bitten, das sie betreten. «Viele wollen das nicht in Italien tun», sagt Sarfatti. «Zwingen aber können wir sie nicht.»

aaronSchlepper bringen sie über die grüne Grenze in die Schweiz oder weiter nördlich. Beliebt ist Schweden, wo Syrer meist Asyl erhalten.

Aaron (25) stammt aus Eritrea. Mit zwölf kam er nach Italien, flüchtete als Kind aus libyschen Gefängnissen. Heute spricht er sieben Sprachen, übersetzt in Terni bei Flüchtlingen. Und doch will er weg von Italien, will mehr arbeiten.

Fünfmal versuchte er, das Land zu verlassen, war in Deutschland und Frankreich, England, Irland, der Schweiz. Stets musste er zurück nach Italien, wo er um Asyl bat.

Die Schweiz empfand er «als Paradies». Nicht wegen des Geldes. «Schweizer behandeln Menschen mit Respekt.» Hingegen sei in Ita­lien der Rassismus verbreitet. Wenige helfen den Ankömmlingen. «Italien ist kein Land für Immigranten, schon gar nicht für Kinder.»