Der Gräuel wütet im Netz

Die Terrororganisation «Islamischer Staat» (IS) will im Nahen Osten ein Kalifat einrichten. Helfen sollen unmenschliche Gewalt – und modernste Propaganda. Die ist einfach und klar, angsteinflössend und höchst zeitgemäss. IS nutzt Twitter und Facebook – und will weltweit Muslime für den «heiligen Krieg» gewinnen.

Von Peter Hossli

isilFarben wie Figuren sind einfach und klar. Kärglich gelb schimmert die Wüste. Knalliges Orange trägt der Gefangene, die Augen und der kahle Kopf wendet er der Kamera zu. Damit der Zuschauer sofort weiss: das ist der amerikanische Journalist James Foley. Neben ihm steht – in Schwarz – ein Henker. Der trägt eine Maske, verbirgt, wer er ist. In der linken Hand hält er einen Dolch.

Foley sagt ein paar Sätze. Der Vermummte spricht mit britischem Akzent. Was folgt, ist klar bevor man es sieht. Der Henker, den sie «Jihad-John» nennen, enthauptet James Foley (1971–2014).

Einfach und klar: das ist gute Propaganda in Zeiten des Kriegs. Die Propaganda der Terrororganisation «Islamischer Staat» (IS) ist angsteinflössend perfekt.

Die karge Erde zeigt, um was es der IS in ihrem Kampf geht – um Land im Nahen Osten. Das orange Überkleid des Opfers gemahnt an die islamischen Gefangenen auf dem US-Stützpunkt Guantanamo. Das Schwarz des Henkers ist die martialische Farbe der marodierenden IS-Horden. Richtern und Anklägern zeigt er mit der Maske: «Vor Gericht könnt ihr niemals beweisen, wer ich bin.»

Perfekt inszeniert ist das fünf Minuten dauernde Video, sorgfältig geschnitten, die Bilder gleichzeitig von mehreren Kameras aufgenommen.

Rasend schnell verbreitet es sich übers Internet. Millionen sehen es auf mobilen Telefonen und Tablets, verbreiten es mit einem Klick weiter. Bis alte Medien – TV, Radio und die Presse – ebenfalls darüber berichteten.

Sicher, das Video zeigt Grauenhaftes. Aber subtile Stilmittel wie sie etwa Alfred Hitchcock (1899–1980) einsetzte machen es erträglicher. Der englische Regisseur deutete einst Dinge an, ohne sie wirklich zu zeigen. «Es scheint mir fast», zitiert «Der Spiegel» den amerikanischen Dokumentarfilmer Alex Gibney (61) zum Enthauptungs-Video, «als hätten sie den Film bewusst weniger grausam gemacht, damit er umso mehr über das Internet geteilt und gesehen wird. In gewisser Weise ist das fast noch erschreckender: Wie sorgfältig das alles in Szene gesetzt ist, um die grösste mögliche Wirkung zu erzielen.»

Etliche solcher Videos sind im Umlauf, es könnten noch mehr werden. Zumal sich viele Geiseln in IS-Haft befinden. Besonders Briten und Amerikanern droht der Propaganda-Tod. Ihre Regierungen weigern sich partout, Lösegeld zu zahlen.

Propaganda provoziert Gegenpropaganda. Laut ist der Aufschrei, die barbarischen Filme zu ignorieren. Kaum ist ein Video online, verbreiten sich Nachrichten unter dem Haschtag #ISISMediaBlackout. Keinesfalls sollte jemand den Terroristen den Gefallen tun, sich die Bilder anzuschauen.

Das amerikanische Aussenministerium fordert junge Muslime auf, sich nicht der IS anzuschliessen, warnen via Twitter. Unter dem Hashtag #ThinkAgainTurnAway publizieren sie Fotos von Kindern, die unter dem Terror leiden, von verhafteten IS-Kämpfern.

Stoppen lässt sich die IS-Propaganda jedoch nicht. Die Schergen beherrschen die Popkultur. Sie kennen die menschliche Lust, dem Schrecken zu frönen – auch das haben sie bei Hitchcock gelernt.

Tausende islamische Kämpfer werben sie mit den Enthauptungen an. Die sind geblendet von einem Muslim, der über einem demütig knienden Amerikaner thront. Aus ihrer Sicht die Umkehr der globalen Macht. Plötzlich ist der vermeintlich Schwache der Starke.

Mit genau dieser Botschaft wollen die IS-Schergen ein Kalifat errichten, einen islamischen Staat, der vom syrisch-irakischen Grenzgebiet aus ständig weiter wuchert. In dem die Scharia gilt, das steinzeitliche Gesetz des Islams. Wo Terror wütet. Frauen keinerlei Rechte haben. Wer sich dem in den Weg stellt, verliert Kopf und Kragen.

Nahezu in Echtzeit lässt sich der Krieg ums Kalifat verfolgen. Beim Marsch auf Mosul setzten die IS-Propagandisten täglich 40000 Tweets ab. Löscht Twitter eines ihrer Konten, eröffnen sie Minuten später ein neues. Sie twittern auf Arabisch und Englisch, Französisch und Spanisch. Damit ihre Nachrichten nicht nur in Aleppo und Bagdad, sondern in Barcelona und Berlin, London und Lyon ankommen. Muslime aus der ganzen Welt will die IS in ihre Schlachten holen.

Vieles entnehmen die IS-Ideologen den Ideen von Joseph Goebbels (1887–1945), dem obersten Propagandisten der Nazi-Zeit.

Wie die Nazis setzt IS auf ästhetisch hochwertige Bilder. Auf martialische Auftritte. Auf dunkle Hemden. Auf Reihen und Kolonen. Goebbels wandte sich an die damals modernsten Medien – zuerst ans Radio und das Kino, später ans Fernsehen. Trotz Verankerung in der Wüste ist IS höchst zeitgemäss. Videos veröffentlicht die Terrorgruppe, wo sich Jugendliche tummeln, auf Nachrichtendiensten wie Kik und WhatsApp, auf sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook.

Beide – IS und Nazis – sind totalitär. Ihre Propaganda soll das eigene Volk einen, todesmutige Kämpfer rekrutieren und Gegner einschüchtern. Goebbels engagierte dafür die Filmästhetin Leni Riefenstahl (1902 – 2003). Sie filmte Wehrmacht und Waffen-SS beim geeinten Marsch. Auf der Leinwand zu sehen war eine geballte Macht, bereit, Europa und die Welt zu erobern.

In der IS-Propaganda marschieren schwarz gekleidete Muslime im Stechschritt. Sie feuern Salven aus Kalaschnikow-Gewehren, johlen auf heran brausenden Pick-Up-Trucks. Sie wirken geeint, wie eine geballte Macht, bereit, die islamische Welt zu erobern

Die Propaganda zeigt Wirkung. Bereits haben sich rund 3000 Menschen aus westlichen Ländern der IS angeschlossen, darunter über 100 Amerikaner. Dazu Tausende aus dem Nahen Osten, die nach Syrien und in den Irak ziehen, um zu töten und zu sterben.

Auf IS-Websites erfahren sie, welche Schuhe sie tragen sollen, ob es Zahnbürsten zu kaufen gibt. Und wie sich die neuen mit den alten Kämpfern treffen können. Zieht einer in den «heiligen Krieg», erhält er zuvor den Auftrag «Kik me», er soll die IS über den Kurznachrichtendienst Kik kontaktieren.

Lange galt der saudi-arabische Terrorfürst Osama bin Laden (1957 – 2011) als wirkungsvollster islamischer Propagandist. Er orchestrierte den Angriff auf die USA am 11. September 2001. Live am Fernsehen sahen Milliarden wie Terroristen den wohl verheissungsvollsten Anblick zerstörten – die Skyline Manhattans. Sie steht für Freiheit und Fülle. Kaum ein anderes Bild versetzte die Welt mehr in Angst und Schrecken als die malträtierte City-Silhouette.

Damit nicht genug. Per Videobotschaften kündete bin Laden noch mehr Terror an. Heute aber wirken diese statisch und altbacken, ihre Verbreitung altmodisch und langsam. Bin Laden sass jahrelang in einer Höhle, irgendwo im Hindukusch, blickte sitzend in die Kamera, las Monologe vor. Ästhetik? Interessierte ihn nicht. Es genügte ihm, ein Gewehr im Bild zu haben. Er trug meist ein bräunliches Gewand, sass vor einem bräunlichen Hintergrund, sein Bart war anfänglich bräunlich, dann grau.

Schmuggler trugen die Videos übers Gebirge zu TV-Stationen, meist zu Al Jazeera nach Katar. Von dort gingen sie um die Welt.

Das ist passé. Die Dschihadisten setzen auf die Ästhetik Hollywoods und von Videogames. Niemand schmuggelt mehr Videokassetten. Kaum ist ein Beitrag geschnitten und vertont, laden ihn die IS-Propagandisten ins Internet. Berichte über ihre Schlachten publizieren sie auf Sites wie JustPaste, Tonausschnitte auf SoundCloud. Sie nutzen Instagram für Fotos.

Bin Laden feuerte Islamisten an, Anschläge im Westen zu verüben. Nicht so die IS. Aufrufe, den Westen zu zerschlagen, fehlen fast gänzlich. Die Propaganda fokussiere auf den «nahen Feind», sagt Fawaz A. Gerges von der London School of Economics, auf islamische Führer wie Syriens Präsident Bashar Assad. Nicht auf «ferne Feinde», wie die USA.

Mitte November verbreitete IS ein Video zur Enthauptung des amerikanischen Helfers Peter Kassig (1988 – 2014). Dieser Film aber war anders, weniger ästhetisch, hastiger gemacht, von nur einer Kamera aufgenommen, lieblos geschnitten. Experten deuteten dies als Zeichen, die IS sei nach Monaten amerikanischer Angriffe geschwächt. Gegen Bomben hilft die beste Propaganda nichts.